Der Sonnenschein strahlt weiter

Im August starb Tobias Roller mit acht Jahren. Sein ganzes kurzes Leben lang kämpfte er mit einer seltenen Immunkrankheit. Chemo-, Strahlen-und Stammzelltherapie brachten keine Besserung. Trotzdem war er einer, der das Leben liebte und genoss. Damit tröstete er seine Eltern und bewegte viele Menschen, die mit ihm zu tun hatten. Sein Taufvers ist sein Vermächtnis.
Von Jonathan Steinert
Tobias Roller liebte das Leben – und starb mit acht Jahren

Tobias Roller lebt nicht mehr. Am ersten Tag der Sommerferien ist er in der Tübinger Kinderklinik gestorben. Mit acht Jahren. Fast das gesamte vorige Schuljahr hat er im Krankenhaus verbracht. Seit seiner Geburt schwächte ihn eine äußerst seltene Immunkrankheit, ein Gendefekt, die sogenannte STAT-Mutation. In ganz Europa gibt es weniger als zwanzig Fälle davon. Herausgefunden haben das die Ärzte erst, als Tobias schon fünf Jahre alt war.

In seinen ersten Lebensjahren hatte er kein Bedürfnis zu essen und musste künstlich ernährt werden. Nach seiner Geburt dauerte es ein Jahr, bis er ein Kilogramm zugenommen hatte. Er war immer anfällig für Infektionen. Brach sich als kleines Kind sieben Mal Arme und Beine, schon leichten Erschütterungen konnten seine Knochen nicht immer standhalten. Er war lange zu schwach, um laufen zu lernen, dann schaffte er es gerade vom Wohnzimmer in die Küche. Wenn er nach draußen ging, musste er sich auf der Bank ausruhen.

Als die Diagnose feststand, wurde manches einfacher, denn ab da konnten ihn die Ärzte gezielter behandeln. Das erste Schuljahr konnte Tobias komplett besuchen. Im zweiten sollte der Junge eine Stammzelltherapie bekommen: Neue Zellen von einem Spender, damit sein Immunsystem sich nicht weiter selbst zerstört. Dafür war vorher noch eine Chemo- und eine Strahlentherapie nötig, sodass sein Körper die neuen Zellen aufnehmen konnte. Alles verlief nach Plan. Doch die Therapie zeigte keine Wirkung. Tobias‘ Zustand verschlechterte sich, irgendwann waren keine roten Blutkörperchen mehr in seinem Blut, es transportierte zu wenig Sauerstoff, konnte nicht mehr gerinnen – und Tobias starb.

Ein Rezept für die Krankenschwester

Das kurze Leben von Tobias Roller lässt sich als Leidens- und Krankheitsgeschichte erzählen. Es lässt sich aber auch erzählen als die Geschichte von einem Jungen mit ansteckender Lebensfreude. „Er strahlte immer. Wenn er kam, ging die Sonne auf“, beschreibt ihn seine Lehrerin. Sie ist nicht die einzige, die sich so an ihn erinnert. Das wird aus dem Erzählen seiner Eltern deutlich, und das verraten auch die Zuschriften, die sie nach dem Tod ihres Sohnes von Menschen bekamen, die mit ihm zu tun hatten.

„Seine Lebensfreude, seine Fürsorglichkeit und vor allem das unglaubliche Gespür für seine Mitmenschen sind für mich in Erinnerung“, schreibt Tobias‘ Musiktherapeut an die Eltern des Jungen. „Es ist unglaublich, was für ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch er war“, sagt sein Vater Johannes Roller. Er scheint das bis heute selbst nicht fassen zu können. Tobias muss eine Art gehabt haben, sich für das Leben zu interessieren und für die Menschen um ihn herum, wie es für einen Achtjährigen außergewöhnlich – und für die, die ihn kannten, ein besonderes Geschenk ist.

„Tobias lernte mit vier Jahren, was andere Kinder mit anderthalb lernen“, erklärt sein Vater. Damit meint er dessen körperliche Fähigkeiten. Geistig ist der Junge damals seinem Alter zum Teil weit voraus. Er ist noch keine fünf, als er anfängt, sich das Schreiben beizubringen. Er schaut es sich von seinen zwei älteren Schwestern ab und macht es nach. Wenn seine Mutter im Garten arbeitet, will er genau wissen, was sie dort tut; in der Küche ist er genauso auf Zack. „Er hat immer den Erwachsenen zugehört und alles beobachtet. Das hat er nachgemacht und dadurch gelernt“, erklärt seine Mutter Elisabeth.

Von Tobias' Rezepten gibt es eine ganze Sammlung Foto: pro/Jonathan Steinert
Von Tobias‘ Rezepten gibt es eine ganze Sammlung
Zum Probieren: Ein Steak-Dip Foto: pro/Jonathan Steinert
Zum Probieren: Ein Steak-Dip

So denkt sich Tobias zum Beispiel zahlreiche Rezepte aus, die so auch tatsächlich funktionieren. Für Kuchen, Biskuit, Salat und Saucen notiert er detailliert, welche Menge von welcher Zutat gebraucht wird und wie es zubereitet werden soll. In seinen Steak-Dip etwa kommen außer verschiedenen Kräutern und Sahne zweieinhalb Esslöffel Balsamicoessig, Paprikapulver, Pfeffer, Tomatensalz und „frische Peperoni minikleingeschnitten“. Je nach Geschmack könnten auch noch Radieschen und Zwiebeln rein. Das als „Arme Ritter“ bekannte Gericht mit in Milch eingeweichten Weißbrotscheiben ergänzt er durch seine Kreation „Reiche Ritter“ – folgerichtig mit Vollkornbrot und Schinken. Weil er seiner Krankenschwester zum Geburtstag keinen Kuchen backen kann, schreibt er ihr ein Rezept dafür auf.

Überhaupt liegt ihm das Wohl der anderen am Herzen. Für seinen Physiotherapeuten bastelt er zu dessen Hochzeit ein Sparschwein aus Pappmaché, pink mit grünen Punkten drauf. Auch um seine Eltern sorgt er sich. Schon als Zweijähriger streichelt er ihre Hand, als wolle er sich bedanken für ihre Zuwendung, beschreibt es sein Vater. Während seines Krankenhausaufenthalts im zweiten Schuljahr sind sein Vater und seine Mutter immer abwechselnd bei Tobias, schlafen auf einer Klappliege mit in seinem Zimmer, halten ihm nachts die Hand, sind einfach da. Tobias kümmert sich darum, dass auch sie etwas aus der Krankenhausküche zu essen bekommen.

Mit den Farben der Sonne malen

Sein Krankenhauszimmer ist so wohnlich, wie es geht, eingerichtet. Bilder hängen an der Wand, seine Plüschtiere hat Tobias hier, Spiele, Bücher – und eine Carrera-Rennbahn. Er bekommt hier Unterricht in Mathe und Deutsch. Auch wenn es ihm nicht gut geht – für die Schule bleibt er nicht im Bett liegen, sondern setzt sich an den Schreibtisch. Für seinen „Lesepass“ soll er regelmäßig einem Erwachsenen etwas vorlesen. Dann bekommt er eine Unterschrift in seinen Pass. Tobias‘ Lehrerin ist damit einverstanden, dass er dafür die Bibel liest. Jeden Morgen liest er seinen Eltern daraus vor, nicht aus einer Kinderbibel oder einer modernen Übertragung, sondern aus der Lutherübersetzung von 1984 – auf eigenen Wunsch. „Er wollte alles machen wie die Erwachsenen“, sagt sein Vater.

Der Glaube an Gott spielt eine zentrale Rolle im Familienleben von Rollers. Der Sonntag ist immer ein herausgehobener Tag – ohne Arbeit, mit Gottesdienstbesuch, einem besonderen Mittagessen mit dem guten Geschirr im Wohnzimmer. Wenn Tobias kann, geht er mit in die Kinderkirche. Zu Hause und im Krankenhaus hört er sich über eine App biblische Geschichten an. Das Vertrauen auf Gott ist auch das, was es ihm und seiner Familie erleichtert, die schwere Krankheit und die damit verbundenen Umstände zu tragen. Viele Freunde der Familie beten regelmäßig für Tobias, auch sein Kinderarzt, die Kinderkirche und sogar zwei Gebetskreise in Irland und Großbritannien.

Vor allem in den ersten Lebensjahren von Tobias, als noch nicht klar ist, welche Krankheit er eigentlich hat, ist die Situation für seine Eltern sehr schwer. „Es war ein Kampf, ein so leidendes Kind zu sehen“, sagt Johannes Roller. Die zerstochenen Arme des kleinen Jungen, als ihm jeden Tag Blut abgenommen wird. Seine Atemnot, das häufige Spucken. Die bange Frage, ob er durchkommt. „Ich habe gebetet, Gott soll eine Entscheidung treffen, ob das Kind stirbt oder lebt“, erinnert sich sein Vater.

Kurz vor seinem Tod malt Tobias nur noch mit den Farben der Sonne Foto: pro/Jonathan Steinert
Kurz vor seinem Tod malt Tobias nur noch mit den Farben der Sonne

Am Wohnzimmerschrank von Familie Roller hängen heute „Tapferkeitsmedaillen“ aus gelbem Bastelpapier. Die hat Tobias‘ Schulklasse ihm zum achten Geburtstag geschenkt. Auf dem Fußboden steht eine in Folie eingepackte Platte einer Modell-eisenbahn. Eine Leidenschaft von Tobias. Wenige Monate vor seinem Tod hat er vom Verein „Herzenswunsch“ noch einen ICE dafür bekommen. Zwei auf Leinwand gemalte Bilder stehen auf einem Notenständer – ein Marienkäfer und eine Art Regenbogen, nur mit gelb-orange-roten Farbtönen. Die hat Tobias in der Maltherapie gemalt, komplett selber. Kurz vor seinem Tod entschied er, nur noch die Farben der Sonne zu verwenden.

Abschied vom Leben

Ein Fotobuch, das Johannes Roller selbst zusammengestellt hat, erinnert an die vergangenen Jahre der Familie, an die Jahre mit Tobias. Die Fotos erzählen von guten und schlechten Tagen, von Familienurlauben, Ausflügen, und von vielen Tagen im Krankenhaus. Tobias mit diversen Versorgungsschläuchen und Kabeln, Tobias mit kahlem Kopf während seiner Chemotherapie, Tobias mit vom Cortison aufgeschwemmtem Gesicht, Tobias mit großen, dunklen, wachen Augen, Tobias mit türkisem Krankenhaus-Anzug vor einem Rettungshubschrauber auf der Landeplattform.

Hubschrauber begeistern den Jungen. Von seinem Bett aus kann er sehen, wie sie angeflogen kommen, nur der Landeplatz liegt außerhalb seines Sichtfeldes. Er lernt, dass die Zahlen und Buchstaben auf dem Heck verraten, wo der Hubschrauber zugelassen ist. Bald weiß Tobias von jedem anfliegendem Heli, woher er kommt. Er bekommt extra ein Fernglas geschenkt, damit er die Nummern besser erkennen kann. Auch für seine Medikamente und Behandlung interessiert er sich. Er sortiert seine Arznei nach der Reihenfolge, in der er sie einnehmen muss, und achtet genau darauf, dass er sie zum richtigen Zeitpunkt auch bekommt. Da widerspricht er auch schonmal der Krankenschwester, wenn sie etwas vom Plan abweicht. Wenn seine Eltern etwas mit den Ärzten besprechen wollen, gehen sie aus dem Raum. „Tobias hat verstanden, wenn etwas zwischen den Zeilen gesagt wurde“, erklärt sein Vater.

Tobias darf auch sein eigenes Blut unter dem Mikroskop anschauen. Eines Tages stellt er fest: „Das wird nichts mehr.“ Es ist wie eine Vorahnung auf seinen nahenden Abschied. „Papa, ich will nicht mehr.“ Das sagte Tobias nur einmal während seiner Krankheit, erzählt sein Vater: vier Tage vor seinem Tod. „Tobias war immer ein Kämpfer.“ Doch jetzt nicht mehr.

Als sich nach einer Bronchoskopie, einer Lungenuntersuchung, sein Zustand rapide verschlechtert, kommt er auf die Intensivstation. Dorthin will er seinen Lieblingsteddy, „Kranki“, mit dem Pflaster und dem Verband um den Kopf, nicht mitnehmen. Vom Bett in der anderen Station aus könnte er den Hubschrauberlandeplatz sehen, wenn er den Kopf nur ein wenig zur Seite drehte. Aber es interessiert ihn nicht mehr. Wenige Stunden später halten Maschinen den Jungen nur noch künstlich am Leben. In der Nacht holt sein Onkel Tobias‘ Mutter und die Schwestern zu Hause ab und bringt sie ins Krankenhaus. Sie legen, setzen, stellen sich um ihn herum, Johannes Roller pfeift leise Tobias‘ Lieblingslieder, wie er es jeden Abend bisher getan hat, nach singen ist ihnen nicht zumute, als Tobias stirbt.

Lasten auf Gott wälzen

„Ich bin überzeugt, dass Gott ihm etwas gezeigt hat, von dem wir nichts mitbekommen haben“, sagt sein Vater. „Er war innerlich auf den Tod vorbereitet.“ Johannes Roller hat mit seinem Sohn nicht über den Tod gesprochen. Er hatte es vor, aber er kam nicht mehr dazu. Denn dass sich Tobias‘ Zustand so schnell so sehr verschlechtern würde, war nicht abzusehen. „Er wusste, was der Himmel ist“, ist sich sein Vater aber sicher. Und er ist auch sicher, „dass er oben ist und ein schöneres Leben hat“. Viele kleine Erlebnisse, Fügungen, Gebetserhörungen – von Regenbögen an entscheidungsschweren Tagen bis zu Tobias‘ ahnungsvollem Abschiednehmen – waren für Rollers mehr als Zufälle.

Zur Beerdigung von Tobias kommen hunderte Menschen. Der Arbeitgeber von Johannes Roller schließt vorübergehend, damit die ganze Belegschaft zur Trauerfeier gehen kann. Auch Ärzte, Krankenschwestern und Therapeuten aus der Kinderklinik kommen, was sonst nicht üblich ist. Tobias‘ Schulklasse singt ein Lied.

Sein Onkel, ein ordinierter Pfarrer, hält die Predigt. Darin spricht er auch die Frage nach dem Vertrauen auf Gott im Leid an, danach, was Menschen von Gott erwarten. Er bezieht sich dabei auf den Taufspruch von Tobias aus Psalm 37: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird‘s wohl machen.“ Lasten auf Gott wälzen, die einem zum Tragen zu schwer sind, bedeute das wörtlich. „Das erspart uns unsere Schmerzen und Fragen nicht, aber es wirkt unglaublich befreiend und hilft.“ Dieser Taufvers sei ein Vermächtnis des Jungen an die Zurückgebliebenen.

Viele Menschen melden sich seit Tobias‘ Tod und im Nachgang zur Trauerfeier bei Rollers. Sie seien ermutigt worden von Tobias‘ Geschichte, getröstet über eigene Probleme. Ein Chefarzt, der Tobias in seinem ersten Lebensjahr in München behandelte, schrieb der Familie, wie ihn die Ansprache der Trauerfeier bewegt habe. Er wolle sie seinen eigenen sieben Kindern zum Lesen geben. Warum musste Tobias sterben? Diese Frage stellt sich auch sein Vater. „Sein Leben hatte trotzdem einen Sinn. Bei vielen Menschen hat er einen Fußabdruck hinterlassen, man merkt, wie viel Segen er bewirkt hat“, sagt er. Bei allem Schmerz: Das ist sein Trost.

Von: Jonathan Steinert

Dieser Text ist der aktuellen Ausgabe 6/2017 des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

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