„24-Stunden-Kitas missachten Bedürfnisse der Kinder“

Kindertagesstätten sollen rund um die Uhr offen haben: Dieses Modell zieht der nordrhein-westfälische Familienminister Joachim Stamp (FDP) in Betracht. Christel Schmidt, langjährige Kita-Leiterin, lehnt das ab. Im Interview erklärt sie, warum dieses Modell den Kindern in ihrer Entwicklung nicht gerecht wird.
Von PRO
Die Sozialfachwirtin Christel Schmidt bewertet 24-Stunden-Kitas kritisch

In Nordrhein-Westfalen wünscht die Landesregierung aus CDU und FDP mehr Flexibilität bei den Öffnungszeiten von Kindertagesstätten. Familienminister Joachim Stamp (FDP) hat dabei 24-Stunden-Modelle ins Spiel gebracht. pro hat dazu mit der Kita-Beraterin und Erzieherin Christel Schmidt gesprochen, die seit mehr als 20 Jahren Leitungserfahrung in Kindertagesstätten hat. Seit sieben Jahren leitet Schmidt das „Juwelchen“, die Betriebskindertagesstätte eines Projektentwicklungsunternehmens für erneuerbare Energien im rheinland-pfälzischen Wörrstadt mit rund 70 Kindern im Alter von einem bis sechs Jahren. Im Auftrag der Stiftung Wertestarter berät Schmidt für das „Kita-Netzwerk“ Eltern und Initiativen, die Kindertagesstätten gründen wollen, in Fragen der Pädagogik und Mitarbeiterführung. Den Vorstoß Stamps findet sie problematisch.

pro: Frau Schmidt, in Nordrhein-Westfalen erwägt Familienminister Joachim Stamp, Kindertagesstätten zu schaffen, die 24 Stunden geöffnet haben. Was halten Sie davon?

Christel Schmidt: Kindertagesstätten mit 24 Stunden Öffnungszeit lehne ich ab. Hier wird komplett das Bedürfnis des Kindes außer Acht gelassen. Die Kinder haben keine Lobby, also kämpft auch niemand für die Bedürfnisse der Kinder. Im Vordergrund stehen bei dem Gedanken vor allem wirtschaftliche Interessen. Die Unternehmen wünschen, dass Mitarbeiter jederzeit für das Unternehmen tätig sein können. Das Wohl der Kinder spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die wertvolle Beziehungszeit mit den Eltern, die Kinder lieben und brauchen, wird deutlich beschnitten.

Wie bewerten Sie die Idee aus der Praxis heraus?

Meine Erfahrung ist, dass viele Eltern die 24-Stunden-Kita zwar prinzipiell gut finden, aber dann doch nicht nutzen. Es gibt bundesweit schon einige 24–Stunden–Kitas, doch wie viele Kinder konkret dort die Einrichtung nutzen, erfährt man aber nicht. Ich habe vollstes Verständnis etwa für Krankenschwestern, die auch Nachtdienste übernehmen müssen. Deren Situation kenne ich aus einer vorhergehenden Arbeitsstelle. Den Müttern fällt es schwer, die Kinder ganz früh oder noch spätabends vor der Schicht in die Kita zu bringen und abzugeben. Ich habe dann angeboten, mit der Pflegedienstleitung zu sprechen und zu prüfen, ob die Aussicht auf einen reinen Tagdienst besteht. Es geht letztlich um ein paar Jahre, in denen Kinder die intensiven, konzentrierten Beziehungszeiten mit ihren Eltern, vor allem der Mutter, brauchen. Ich bin der Meinung, wir müssten sehr viel mehr die Wirtschaft in die Verantwortung nehmen, dass die für Eltern mit Kindern bis sechs Jahre flexiblere Arbeitszeiten am Tag anbietet.

Welche Möglichkeiten haben christliche Gemeinden, Kirchen und private Initiativen, um den Bedarf an Kita-Plätzen, der ja vorhanden ist, zu decken?

Ich würde keine 24-Stunden-Kita leiten wollen und lehne sie auch aus christlicher Überzeugung heraus ab. Ich würde viel lieber mit den Eltern ins Gespräch kommen und schauen wollen, wo es Betreuungsmöglichkeiten außerhalb einer Institution gibt. Zum Beispiel im sozialen Netzwerk einer Gemeinde oder dem Freundeskreis. Wo gibt es die Möglichkeit, dass mein Kind bei einem Freund übernachten kann, um der institutionellen Betreuung nicht ausgesetzt zu sein?

Warum?

Die institutionelle Betreuung kämpft unter anderem mit einer immensen Fluktuation bei den Betreuern. Die Betreuer können natürlich nicht permanent, etwa über Nacht, ihren Dienst anbieten. Das hat zur Folge, dass die Kontinuität bei der Bezugsperson einfach nicht da ist. Die ist gerade für Kinder bis zum Alter von sechs Jahren sehr wichtig. Es ist wichtig, dass bei der Bezugsperson eine Kontinuität gewährleistet ist.

In der Gemeinde wäre beispielsweise denkbar, ob nicht eine Oma oder eine Rentnerin in die Familie kommen könnte. Die Kinder bleiben dann in ihrer gewohnten Umgebung und werden dort betreut. Da gibt es sicher noch Potential, dass es zu entdecken gilt. Das würde ich favorisieren. Natürlich ist die Betreuung in einer Kindertagesstätte wichtig und unbedingt sinnvoll, aber bei derlei Überlegungen muss immer individuell nach dem Kind geschaut werden: Wie alt ist das Kind und wie viel Betreuungszeit in einer Institution tut einem Kind gut? Das kann mal mehr, mal weniger sein. Aber Kinder nachts aus ihrer vertrauten Umgebung, der Sicherheit und Geborgenheit die Mama und Papa geben, herauszureißen, halte ich für bedenklich.

Ein wichtiges Thema für die nächste Jahre wird sein, wie Flüchtlinge in unsere Gesellschaft eingegliedert werden können. Welchen Beitrag können Kindertagesstätten bei der Integration leisten?

Kindertagesstätten sind für die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund enorm wichig. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter. Meine Überlegung geht hin zu Familienzentren, denn es geht nicht nur um die Kinder von Ausländern und Asylbewerbern, sondern auch um die Mütter. Sie stehen in der ganzen Kette am Schluss und lernen oft als letzte unsere Sprache. Mütter und Väter sollten meiner Meinung nach bei allen Integrationsmaßnahmen berücksichtigt werden.

Wo entstehen sonst Probleme?

Es bringt wenig, wenn das Kind Deutsch spricht, aber die Eltern, vor allem die Mutter zuhause diese Sprache überhaupt nicht versteht. Ich finde es nicht gut, wenn zum Beispiel viele Flüchtlingskinder in eine Kita-Gruppe kommen. Die Kinder von Asylbewerbern sollten zum Beispiel organisch, etwa zu zweit oder zu dritt, in eine Gruppe eingegliedert werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sich eine Gruppe in der Gruppe bildet. Das ist wenig sinnvoll. Die Kindertagesstätten benötigten dazu aber auch Erzieher mit entsprechender Fortbildung, denn Kinder von Flüchtlingen sind oft schwer traumatisiert. Die Kinder dürfen nicht überfordert werden und benötigen eine einfühlsame Betreuung.

Vielen Dank für das Gespräch! (pro)

Die Fragen stellte Norbert Schäfer.

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