„Heldinnen gegen den Mainstream“

Vorgeburtliche Gentests helfen dabei, frühzeitig Krankheiten beim Ungeborenen zu erkennen. Doch sie stellen Eltern im Fall einer Diagnose schnell vor eine Entscheidung über Leben und Tod. Über schwierige Abwägungen, mutige Mütter und die Aufgabe der Kirchen hat pro mit Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck und Mitglied im Ethikrat, gesprochen.
Von PRO
Der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein, ist seit 2014 Mitglied des Deutschen Ethikrates

pro: Herr Bischof Hein, sehen Sie aus ethischer und theologischer Sicht ein Problem in den Bluttests, mit denen Trisomie 21 festgestellt werden kann?

Martin Hein: Der Ethikrat befasst sich seit 2013 ausführlich mit Fragen der Gendiagnostik. Speziell gilt es im speziellen Fall folgende Fragen zu klären: Wie verfahren wir, wenn Trisomie 21 festgestellt wird? Akzeptiert unsere Gesellschaft Menschen mit Down-Syndrom überhaupt? Werden Eltern unter Druck gesetzt, das Kind abzutreiben, wenn der Verdacht einer Trisomie besteht? Die Entscheidung der Eltern berührt also in jedem Einzelfall fundamentale Aspekte des Verständnisses unseres Mensch-Seins und damit der Ethik.

Der Praenatest, ein Bluttest bei der werdenden Mutter, erlaubt, eine mögliche Trisomie mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen. Wann ist nach ethischen Maßstäben die Validität eines Tests ausreichend?

Eine hundertprozentige Aussage ist auch mit einem elaborierten Test nicht garantiert. Man wird nur von einer höchstmöglichen Wahrscheinlichkeit ausgehen können. Das muss man wissen. Die Frage ist außerdem, ob man diese Gentests ausweitet: Ist mein Kind möglicherweise behindert? Oder: Welches Geschlecht hat mein Kind?, um dann Entscheidungen zu treffen. Das halte ich für nicht verantwortlich. Aus meiner Sicht kommt der Praenatest dann in Frage, wenn es medizinische Anhaltspunkte gibt, die darauf schließen lassen, dass dieses Kind vermutlich behindert ist. Was nicht sein darf und aktuell auch nicht erlaubt ist: eine allgemeine Gendiagnose vorzunehmen, ein „Gen-Screening“, das alle denkbaren Eventualitäten mit in den Blick nimmt.

Was ist, wenn das Ergebnis eines Tests vorliegt?

Der Ethikrat spricht sich explizit dafür aus, dass eine solche gendiagnostische Maßnahme, egal ob invasiv oder nicht, nur unter strenger medizinischer Beratung und Begleitung erfolgen soll. Die Folgenabschätzung sollen wir nicht allein den werdenden Eltern überlassen. Es geht dabei letzten Endes um die sehr konkrete Frage: Wieviel Behinderung muten wir uns als Gesellschaft zu und wieviel Behinderung sind wir bereit, auch finanziell mit zu tragen?

Ziel der Gentests ist es natürlich, schwerwiegende Behinderungen von vornherein zu vermeiden, indem man diese Kinder gar nicht erst ins Leben kommen lässt. Das kann ich im Einzelfall zwar nachvollziehen, plädiere aber dafür, dass wir weiterhin eine „inklusive Gesellschaft“ bleiben sollten, die es lernt und bereit ist, mit behinderten Menschen zu leben. Behinderungen treten ja auch im Lauf eines Lebens durch Unfälle oder Erkrankungen auf und haben schwere Folgewirkungen. Eine Gesellschaft ohne menschliche Behinderungen oder Einschränkungen wird es nie geben.

Ich glaube, wir können nur dann verantwortlich mit diesen Bluttests umgehen, wenn Eltern sich nach entsprechender Prognose nicht unter Druck gesetzt fühlen, das Kind prinzipiell abzutreiben. Sofern sie sich allerdings nach ernsthafter Prüfung nicht in der Lage sehen, dem Kind in liebevoller Weise Eltern sein zu können, darf ich moralisch nicht über sie richten.

Was ist in dieser Angelegenheit die konkrete Aufgabe des Ethikrates?

Für den Ethikrat stellt es sich so dar, dass wir nicht alle denkbaren Einzelfälle in den Blick nehmen können. Wir wollen die Politik, aber auch Betroffene befähigen, eine begründete – aus christlicher Sicht heißt das: eine gewissenhafte – Entscheidung fällen zu können.

Als erstes geht es darum, dass in unserer Gesellschaft der Wert des Lebens von Anfang an hoch eingeschätzt wird. Zu diesem Leben gehört auch behindertes Leben. Ich weiß allerdings aus dem näheren Freundes- und Bekanntenkreis, dass eine Entscheidung für ein behindertes Kind den gesamten eigenen Lebensentwurf komplett auf den Kopf stellen kann. Das haben sich die Eltern klar zu machen, wenn sie diese Entscheidung treffen.

Eltern müssen zudem von der Gesellschaft und vor allem von den Kirchen dabei unterstützt werden, wenn sie auch unter diesen Maßgaben bereit sind, dem Kind trotz einer Behinderung das Leben zu schenken. Ich glaube, dass wir in Diakonie und Caritas dazu echte Hilfestellungen bieten können. Und es darf keinesfalls darum gehen, Menschen zu stigmatisieren, die sich für behinderte Kinder entschieden haben.

Für mich sind Mütter, die Kinder mit Behinderungen lieben und aufziehen, die wahren Heldinnen. Sie haben sich etwas zugetraut, was nicht dem Mainstream unserer Gesellschaft entspricht. Aber ich kann es ebenso gut verstehen, wenn Menschen sagen: Ich bin dazu nicht in der Lage. Dann bieten wir, wenn sie das wünschen, eingehende seelsorgliche Beratung an, um eine eigene Entscheidung bewusst treffen zu können und mit den Gewissenskonflikten, die sich damit verbinden, umgehen zu lernen. Das ist ein ganz schwieriges Feld.

Gibt es ein Recht auf Leben?

Ja, es gibt ein Recht auf Leben. Nur ist dieses Recht rechtlich nicht durchsetzbar. Es ist ein moralisches Recht, denn der Fötus kann seinerseits dieses Recht nicht einklagen. Unsere Gesellschaft mit ihrer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung ist ausgesprochen stark daran orientiert, diesem Recht auf Leben wirklich Gestalt zu geben. Da sind andere Länder, auch in Europa, erheblich liberaler. Das rührt aus unserer eigenen problematischen Geschichte in Deutschland, in der man sich angemaßt hat, Leben für „unwert“ zu erklären.

Ich bin dankbar, dass der Ethikrat die Freiheit, die er hat, auch wahrnimmt, intensiv und offen darüber nachzudenken, ob alles ethisch legitimiert ist, was medizinisch möglich ist.

Vielen Dank für das Gespräch! (pro)

Die Fragen stellte Norbert Schäfer

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