Was ein Muslim denkt, wenn er christliche Kunst betrachtet

Ein überzeugter Muslim mit Wurzeln im Iran taucht in die christliche Bilderwelt ein. Was er dabei empfindet, erklärt der Orientalist Navid Kermani in seinem Buch „Ungläubiges Staunen: Über das Christentum“. Der Blick von Außen legt ungeahnte Aspekte frei. Eine Rezension von Judith Schmidt
Von PRO
Der Orientalist und gläubige Muslim Navid Kermani nähert sich dem Christentum über die Kunst.
Der habilitierte Orientalist Navid Kermani ist im Siegerland aufgewachsen und hat dort das nüchterne, auf das Wort fokussierte protestantische Christentum kennengelernt. Als er seinen Wohnsitz nach Rom verlegt, entdeckt er die christliche Kunst und staunt über deren Schönheit und Absurdität. Die Gemälde wecken bei ihm Assoziationen, erinnern ihn an Geschichten und bringen Saiten zum schwingen, die ihm aus der eigenen Religion bekannt sind. Besonders oft findet er Parallelen im Sufismus, der islamischen Mystik, schreibt er in seinem Buch „Ungläubiges Staunen: Über das Christentum“.

Jesus als roter Tänzer der Sufis

In einer Darstellung der Kreuztragung von Sandro Botticelli fällt ihm die Schönheit Jesu, aber auch seine nicht unbedingt maskuline Darstellung auf. Kermani meint, einen Tänzer in einem roten Kleid zu sehen, kann aber seinen Augen kaum trauen. Fast eine Stunde dauert sein Rendezvous mit dem Gemälde. Einen „König der Schönheit“ in rotem Gewand riefen auch die Sufis an, so Kermani, während sie um die eigene Achse wirbelten, um sich mit dem Göttlichen zu vereinigen. Und diesen König erkennt er eindeutig in dem Gemälde – zu seinem eigenen, „ungläubigen“ Staunen.

„Der Islam ist in Abgrenzung zum Christentum entstanden“

Jesus spielt auch im Koran eine hervorgehobene Rolle, sagt Kermani. Er kenne sogar eine Art „islamisches Christentum“. Jesus sei im Koran als einziger Prophet das „Wort Gottes“, werde auch „Geist Gottes“ genannt. Es sei ihm als Muslim durchaus möglich, Jesus als „seinen“ Propheten innerhalb der Prophetengeschichte zu betrachten. Auch der Koran erzähle die biblischen Geschichten, deute diese allerdings anders – nicht eigenwilliger als so mancher christlicher Theologe, findet Kermani. Der Islam sei in bewusster Abgrenzung zum Christentum entstanden. Während man sich im Christentum über die Frage gestritten habe, ob Jesus Gott selbst oder nur dessen Abbild sei, habe der Islam eine Entscheidung getroffen: Es gibt nur einen Gott. Dieses Bekenntnis wiederholen fromme Muslime fünf Mal am Tag. Die Darstellung Jesu im Koran knüpfe aber nahtlos an das an, was die christliche Tradition über Jesus sagte, bevor die Dreieinigkeit als verbindlich festgelegt wurde, so Kermani. Während er sich in die christliche Kunst vertieft, kommt Kermani zu dem Schluss, dass Islam und Christentum aus einer gemeinsamen Quelle hervorgegangen sind, sich sehr ähnlich waren und sich bis heute in ihren mystischen Traditionen ähnlich sind – Thesen, die sicherlich nicht jeder Leser teilen wird. Deutlich wird in seinen Betrachtungen aber auch, wo die Trennlinien zwischen den beiden Religionen verlaufen. Das „ungläubige Staunen“ über das Christentum könnte sowohl christliche als auch muslimische Leser inspirieren, auch positive Seiten an der jeweils anderen Religion zu entdecken. Der Autor wird dieses Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auf der Frankfurter Buchmesse erhalten. In einem Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung beklagt Kermani einen „Niedergang“ des Islam durch fundamentalistische Tendenzen. Schuld daran sei eine zunehmende Unkenntnis der eigenen Wurzeln in der muslimischen Welt. In seinem Buch legt er diese Wurzeln frei, indem er sich mit der christlichen Kunst beschäftigt. (pro)

Navid Kermani: „Ungläubiges Staunen: Über das Christentum“, C.H. Beck, 303 Seiten, 24,95 Euro. ISBN 3406683371

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