„Hier geht nichts ohne Beziehungen“

Das Leben junger Menschen in sozialen Brennpunkten ein bisschen besser zu machen, ist eins der Ziele von „Jumpers“. Im Stadtallendorfer „Eichenhain“ hat der Verein ein neues Projekt gestartet – und unverhofft prominente Unterstützung gefunden.
Von PRO
Tobias Czarski arbeitet bei dem Verein Jugend mit Perspektive. Seine Botschaft an die Kinder in seinem Viertel ist: Jeder ist wertvoll!
Seit er im September in den Eichenhain gezogen ist, schlendert Tobias Czarski fast jeden Tag durch die Straßen des Brennpunktviertels. „Hallo Gaby“, ruft der 26-Jährige der Frau mit den braunen, etwas strähnigen Haaren zu. Gaby (Name von der Redaktion geändert) hat gerade zwei türkischstämmige Mädchen von der Grundschule abgeholt. Sie dürfte dem Rentenalter nahe sein, aber diese Altersschwelle ist nicht wichtig für Gaby. Sie hat keine Arbeit, lebt von Hartz IV. Die Kinder in ihrem Viertel auf ihrem Schulweg zu eskortieren, hat sie sich zur Aufgabe gemacht, denn „die Strecke ist nicht so schön“, sagt Tobias über den unsicheren Weg. Er leitet das christliche Sozial-Projekt im Eichenhain. Angestellt ist der Absolvent des Marburger Bildungs- und Studienzentrums beim Verein Jugend mit Perspektive, kurz Jumpers.Der Eichenhain ist kein schmucker Stadtteil. Ein Wohnblock grenzt an den anderen, die orange Farbe der Nummer 8, in der Tobias mit seiner Frau wohnt, hebt sich wohltuend von dem Grau der benachbarten Betonblöcke ab. Seine Frau sei wohl die einzige mit blonden Haaren hier, meint Tobias. Sie fällt auf, bei einem Migrantenanteil von 70 Prozent. Die Hälfte der Menschen, die im Eichenhain wohnen, sind türkischer Herkunft. Sieben Prozent stammen aus Russland, etwas weniger aus Italien und Polen. Das führe natürlich nicht zwangsläufig zu Problemen, beeilt sich Thorsten Riewesell zu sagen. Er hat Jumpers vor vier Jahren gegründet, um Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten Perspektiven für ihr Leben aufzuzeigen und christliche Werte zu vermitteln. Im Eichenhain aber gebe es viel Gewalt, ein schwaches Sozialverhalten, ein niedriges Bildungsniveau und immer wieder Vandalismus. Erst kürzlich wurde ein Kirchenfenster eingeworfen. Die Wohnbaugesellschaft GWH wandte sich deswegen an den christlichen Verein. In Kassel-Helleböhn arbeitet die Gesellschaft schon seit drei Jahren mit Jumpers zusammen. Jumpers erhält kostengünstig Wohnraum für Mitarbeiter und trägt im Gegenzug dazu bei, dass Menschen lieber in dem Stadtteil leben. Seit Beginn der Zusammenarbeit geht es mit Helleböhn bergauf, so seien die Aufwendungen der Wohnbaugesellschaft, um beispielsweise Graffiti zu entfernen, messbar zurück gegangen, erklärt Thorsten Riewesell. Für die GWH ist das gewinnbringend: Ist die Gegend schöner, wollen mehr Menschen in deren Häusern wohnen. Nach einem ganz anderen Gewinn hält Jumpers Ausschau: „Wir kümmern uns um den Leerstand von Köpfen und Herzen“, sagt Riewesell. Dazu ist Tobias mitten in die Betonblöcke gezogen, um besser begreifen zu können, was die Menschen hier umtreibt und um den Alltag mit ihnen zu teilen.

Messerstecherei mit Kinder-Publikum

Der grüne Farn und die lila blühende Orchidee im Fenster des zweiten Stockwerks des Häuserblocks mit der Nummer 8 unterscheidet Czarskis Zuhause von den ungeschmückten Fenstern der anderen Wohnungen. Wer ein anderes Milieu gewohnt sei, müsse hier schon zurückstecken, sagt Tobias, und meint sich selbst. Der Lärm von oben und von unten sei gewöhnungsbedürftig. Dann grinst der gebürtige Sachse: „Aber sonst würde ich ja auch nicht so gut verstehen, was die Leute bewegt.“ Vor drei Wochen habe es eine Messerstecherei direkt vor seinem Haus gegeben. Die Nachbarn hätten sich um das Geschehen versammelt und zugeschaut, darunter auch Kinder. Das erzählt Tobias nur widerwillig. Immerhin sei der Krankenwagen noch rechtzeitig gekommen. Dem Projektleiter gefallen die positiven Geschichten besser. Zum Beispiel die, wie sehr sich die Menschen gefreut haben, als er mit den Kindern vor Weihnachten kleine Geschenke gebastelt und sie in der Nachbarschaft verteilt habe. Oder dass ihn ein paar von den deutsch-türkischen Jungs, mit denen er Basketball spielt und skatet, mittlerweile wie einen großen Bruder behandeln. „Wir brauchen keine Angebote zu machen, bevor es gute Beziehungen gibt“, sagt Tobias. Um die Menschen kennenzulernen, hält er sich da auf, wo sie sind. Im Eichenhain ist das vor allem im „Rugger-Park“, einem Beton-Platz, der mit zwei Basketballkörben und Fußballtoren ausgestattet ist. Ein paar von den Jugendlichen, die Tobias hier trifft, kommen freitags zum offenen Teenkreis „Room for You“. Über die Schulwegs-Begleiterin Gaby hat Tobias Grundschulmädchen kennengelernt, die donnerstags zu „Jump Girls“ zusammenkommen. Explizit christlich sind die Angebote nicht. Noch nicht, das brauche Zeit. Zunächst gehe es darum, den Kindern und Jugendlichen Wertschätzung und Verlässlichkeit vorzuleben. Langfristig wünscht sich Tobias, dass „die Jugendlichen ihren Wert erkennen, das, was Gott in sie hineingelegt hat, und dass sie eine Beziehung zu Gott finden“.Eine Mogelpackung will Tobias aber auch nicht weitergeben. „Ich sage schon, dass ich an Jesus glaube, und ich sage den Kindern, dass sie Ebenbild Gottes sind und dass etwas in ihnen steckt“, erklärt er. „Und dass ich vor Ort etwas mit ihnen schaffen möchte, was sie fördert.“ Als sich die Kinder einmal prügelten, stellte er deshalb eine einzige Regel auf: Alle sind wertvoll. Das habe Eindruck gemacht. „Scheinbar hatten das viele noch nie gehört.“Wenn sie gemeinsam essen, betet Tobias. Wer Müll beim Spielen wegwirft, den weist er darauf hin, dass Gott die Natur geschaffen habe und man gut mit ihr umgehen solle. Und punktuell findet er schon jetzt Gelegenheiten, biblische Geschichten zu erzählen, zum Beispiel vor Weihnachten.

Käßmanns Taufkirche wird Indoorspielplatz

Bisher treffen sich die Gruppen draußen oder in Czarskis Wohnung. Das soll sich in Zukunft ändern. Dazu mietet Jumpers ab September die Herrenwaldkirche an, die direkt an den Stadtteil angrenzt. Die Stadtallendorfer Kirchengemeinde musste sich Ende 2013 aus Kostengründen von dem Gebäude trennen. Pfarrer Thomas Peters freut es, dass mit Jumpers für die ehemalige Kirche Mieter gefunden wurden, denen christliche Werte etwas bedeuten.Angst, dass die überwiegend muslimischen Jugendlichen von dem Kirchengebäude als Treffpunkt abgeschreckt werden könnten, hat Tobias nicht: „Die Kirche ist natürlich ein Statement, aber die Jugendlichen werden kommen, wenn hier drin ein Indoorspielplatz entsteht.“ Denkt er an das, was er mit dem Gebäude vorhat, gerät Tobias leicht ins Schwärmen: Hier könnte man skaten, dort Basketball spielen – und ja, die Fenster ganz oben müsste man wohl irgendwie sichern. Tobias ist handwerklich begabt, er wird sich etwas einfallen lassen. Der Altar kann bleiben – vielleicht gibt es ja bald wieder Andachten in dem Kirchenraum. Am 10. Juli hat sich Margot Käßmann zu einem Vortrag angesagt. In der Herrenwaldkirche wurde die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und heutige Luther-Botschafterin getauft und konfirmiert. Deswegen liegt ihr das Gebäude am Herzen. Sie wird Jumpers künftig regelmäßig finanziell unterstützen. Das Geld kann der Verein gut gebrauchen, denn er lebt hauptsächlich von Spenden und möchte in diesem Jahr noch eine zweite Person für den Eichenhain einstellen. Die Wohnbaugesellschaft hat Jumpers außerdem gebeten, sich auch in Problemvierteln in Frankfurt am Main, Darmstadt, Offenbach, Gera und Salzgitter zu engagieren. In Salzgitter soll es im September losgehen. „Das Projekt wird besonders herausfordernd“, meint Riewesell, denn die Standortanalyse habe ergeben, dass es dort zwei Drogenumschlagplätze sowie 34,5 Prozent Kinderarmut gebe und dass jeder Vierte arbeitslos sei. Nach einem Missbrauchsfall in einer örtlichen Kirche erwartet Riewesell auch kein großes Vertrauen gegenüber einem christlichen Träger. Tobias ist optimistisch: „Viele Menschen sind anfangs misstrauisch, auch hier im Eichenhain.“ Es komme darauf an, Menschen, die im Stadtteil Vertrauen genießen, von seinen guten Absichten zu überzeugen. Tobias ist dies – ganz unverhofft – gelungen: „Ich habe Gaby an ihrem Geburtstag aus dem Urlaub angerufen.“ Das war Gabys einziger Anruf an dem Tag. Und davon erzählt sie jedem, den sie kennt. (pro) Dieser Text ist der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter der Telefonnummer 06441/915 151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online.
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