„Menschenrechte und Religion“: Wenn die Normen ins Spiel kommen

Wann steht für gläubige Menschen religiöses über weltlichem Recht? Mit dieser Frage setzt sich der Frankfurter Pädagogik-Professor Stefan Weyers in einem Beitrag in der "Frankfurter Rundschau" auseinander. Er kommt aufgrund seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass die Menschenrechte aus Sicht muslimischer und christlicher Jugendlicher sehr unterschiedlich wahrgenommen werden.
Von PRO

"Die Akzeptanz der Menschenrechte sinkt vor allem im Konflikt mit religiösen Normen." Diese Aussage stützt Weyers allerdings auf eine nicht-repräsentative Untersuchung, in der 44 muslimische und 45 christliche junge Menschen zwischen 13 und 23 Jahren interviewt wurden. Die Befragten sind in Deutschland aufgewachsen und in türkisch-sunnitischen oder in katholischen Gemeinden engagiert. Die Repräsentativität wird aus Weyers Sicht schon dadurch eingeschränkt, dass viele Muslime und Christen in Deutschland weniger strenggläubig sind als die befragten Personen.

Trotzdem kommt er zu interessanten Ergebnissen: Die höchste Zustimmung auf einer Skala von 10 (sehr wichtig) bis 1 (sehr unwichtig) findet bei acht "klassischen Menschenrechten" das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Mittelwert 9,7). Danach folgen die Gleichheit vor dem Gesetz (9,57), ein faires Gerichtsverfahren (9,31), Religionsfreiheit (9,18), Gleichberechtigung (9,17), Meinungsfreiheit (8,74), politische Mitbestimmung (8,49) und das Recht auf freie Entfaltung der Person (8,14). Alle Rechte genießen eine hohe Wertschätzung, von den muslimischen Jugendlichen werden sie sogar im Mittelwert noch etwas positiver beurteilt als von den christlichen.

Akzeptanz der Menschenrechte sinkt bei Kollision mit anderen Normen

Die große Mehrheit (91 Prozent) spricht sich auch für die universelle Geltung dieser Rechte aus. Die Akzeptanz der Menschenrechte sinke jedoch, wenn diese mit anderen Normen kollidiere. Alle Befragten halten das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit für sehr wichtig, dennoch stimmen viele von ihnen schweren Menschenrechtsverletzungen zu: 30 Prozent befürworten die Todesstrafe für schwere Verbrechen wie Mord, 31 Prozent bejahen die Zufügung starker Schmerzen durch die Polizei, um Entführer zur Aussage zu zwingen und eventuell Leben zu retten, die Androhung von Schmerzen befürworten hier sogar 72 Prozent.

Ähnliche Einschränkungen zeigen sich in Zusammenhang mit religiösen Normen. So wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von der Hälfte der Muslime abgelehnt: 53 Prozent plädieren mit Verweis auf "religiöse Gebote" oder die "menschliche Natur" für ein Verbot homosexueller Handlungen. Bei allen Muslimen ist die Religion ein wichtiger Bezugspunkt des Denkens über Menschenrechte, dies gilt aber nur für ein Drittel der katholischen Jugendlichen, die anderen urteilen strikt säkular.

"Obwohl fast alle Muslime den Koran als direktes Wort Gottes verstehen, legen sie religiöse Normen sehr verschieden aus: Ein Viertel stimmt vielen Menschenrechten im Allgemeinen zu, ordnet sie der Scharia jedoch strikt oder weitgehend unter, so dass diese Rechte im Kern preisgegeben werden", bilanziert Weyers. Ein anderes Viertel interpretiert religiöse Gebote so, dass sie mit den Menschenrechten vereinbar sind und diese sogar religiös fundiere. Knapp die Hälfte der Muslime stimme den Menschenrechten grundsätzlich zu, relativiere diese aber, wenn sie mit religiösen Geboten kollidieren. Moralische und religiöse Urteile stehen hier im Konflikt.

Gottes Regeln alleiniger Bezugspunkt des Urteils

In dem Artikel erläutert Weyers auch in groben Zügen die Urteilsmuster, indem er einen Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst zu Wort kommen lässt. Für den 20-jährigen M. sind "Gottes Regeln" alleiniger Bezugspunkt des Urteils, bei denen religiöse Normen strikt wörtlich verstanden und verabsolutiert werden. Jeder Regelverstoß bedeute eine Missachtung Gottes. Die Menschenrechte begrenzt der 20-Jährige auf "die Rechte, die unser Glaube uns lässt". Die 16-jährige L. hält den Islam für "die richtige Religion", das Recht auf Religionswechsel bejaht sie aber uneingeschränkt.

Die allgemeine Akzeptanz der Menschenrechte sei hoch, so Weyers, in Konfliktfällen werden sie jedoch häufig relativiert: "Die meisten Christen urteilen säkular – auf Kosten religiöser Traditionen. Fundamentalisten (und weniger strikt Orthodoxe) unterwerfen die Menschenrechte dagegen dem göttlichen Gesetz. Und viele Muslime bejahen die Rechte, können sie aber mit ihrem Glauben nicht immer vereinbaren."

Auseinandersetzung mit den Quellen von zentraler Bedeutung

Die Ergebnisse zeigten, dass für das Verhältnis zu den Menschenrechten nicht die Religion, sondern die Interpretation religiöser Quellen entscheidend sei. Von zentraler Bedeutung ist daher, welche Art der Auseinandersetzung mit diesen Quellen gelehrt und gelernt wird. Die Chance eines islamischen Religionsunterrichts liegt darin, die kritische Reflexion und Aneignung religiöser Traditionen zu fördern, ohne moderne Ideen von Freiheit und Gleichheit in Frage zu stellen.

Der Autor lehrt Pädagogik an der Universität Frankfurt/Main. Er hat in jüngster Zeit einen Aufsatz zu dem Thema "Zwischen Selbstbestimmung und religiöser Autorität, säkularem und göttlichem Recht" veröffentlicht. Der Artikel ist in der FR-Serie "Menschenrechte und Religion" erschienen. Diese beschäftigt sich mit der Geltung der Menschenrechte und deren Verhältnis zum Religiösen. (pro)

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