Es gibt mehr Atheisten, als man glaubt

Haben Atheisten keine moralischen Maßstäbe, weil sie nicht an Gott glauben? Wer ist überhaupt ein Atheist und wie viele davon gibt es weltweit? Diesen Fragen widmet die ZEIT in ihrer aktuellen Ausgabe vier Seiten.
Von PRO

"Gläubige und Ungläubige sind füreinander bis heute ein provozierendes Rätsel", schreibt ZEIT-Autor Gero von Randow. Die Frage nach dem "Glauben der Gottlosen" hält er für sehr wichtig, weil sie das Verhältnis zwischen Religiösen und Nichtreligiösen betrifft.

Von Randow unterscheidet zwei Sorten von Atheisten: Einerseits die Gruppe der "neuen Atheisten", die gegen die Religionen kämpfen. Prominenter Anhänger dieser Gruppe sei Richard Dawkins, der nicht nur in seinem Buch "Der Gotteswahn" vehement gegen den christlichen Glauben argumentiere. In einem Interview mit dem Stern sagte der Biologieprofessor: "Mein größtes Anliegen ist die Wahrheit. Ich will wissen, ob es Gott gibt oder nicht."

Die andere und vermutlich größere Gruppe seien Menschen, die nicht an die Existenz Gottes glaubten, aber auch kein Interesse daran hätten, anderen ihren Glauben auszureden. Mitglieder dieser Gruppe sehen Religion eher als historisch gewachsene Systeme, die dazu dienen, die Gesellschaft zusammenzuhalten und deren Konflikte in "Bahnen zu lenken. Ein Beispiel dafür sei der französische Schriftsteller Michel Houellebecq, der seinen Atheismus als "weder engagiert noch klerikal, noch heroisch oder befreiend, sondern einfach kalt" beschreibt.

Gero von Randow hinterfragt auch die Wertebildung von Atheisten: Erstreckt sich deren Gleichgültigkeit gegenüber Gott und Religion auch auf Gut und Böse? Der verbreiteten Annahme, wer keinen Gottesglauben habe, dem fehle auch die Moral, setzt auch der ZEIT-Artikel nicht viel entgegen. Der konsequente Atheist kenne von vorneherein nichts Fragloses – während Religionen Richtlinien und Maßstäbe geben, müsse der Atheist selbst sehen, welchen Weg er gehe.

Viel Sicherheit gebe dies nicht, wertet Gerd von Randow und fragt im nächsten Satz: "War nicht gerade das 20. Jahrhundert so grausam, weil zwei atheistische Systeme ihr Unwesen trieben, der Nationalsozialismus und der Marxismus-Leninismus?" Er beantwortet die Frage mit den Worten des französischen Autors und Religionskritikers Voltaire: "Nicht der Atheismus stachelt die blutigen Leidenschaften an, sondern der Fanatismus."

Atheismus: Ursprung in Europa

Winfried Schröder, Professor für Philosophie in Marburg untersucht in dem Artikel: "Erste Zweifel" die Geschichte des Atheismus. Er weist auch darauf hin, dass es sich bei der Entstehung des Atheismus um einen im Vergleich der Weltkulturen einzigartigen Vorgang handelt. "Einzig in Europa kam es ja dazu, dass der Glaube an eine göttliche Weltursache auf den Widerspruch von Philosophen stieß. Das älteste bekannte Dokument, das Argumente gegen die Existenz Gottes beinhaltet, stammt laut Schröder aus dem Jahr 1659. In "Theophrastus redivivus" argumentiert ein anonymer Philosoph gegen die drei abrahamischen Religionen.

Zeit-Autor Stefan Schmitt fragt in seinem Artikel "Erlösung unerwünscht" wie viele Atheisten es überhaupt gibt. Sind es die 28 Millionen Deutsche, auf deren Steuerkarte  "konfessionslos" eingetragen ist? Dagegen sprächen die Zahlen der Europäischen Wertestudie. Hier gaben 8 Prozent der Befragten aus den westlichen Bundesländern an, atheistisch zu sein, in den neuen Bundesländern sagten dies 20 Prozent.

Schmitt kommt zu dem Ergebnis, dass statistische Zahlen keinen Aufschluss über die tatsächliche Menge der Atheisten geben. Er zitiert den Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaften, Christoph Bochinger: "Es gibt viel mehr Menschen, die faktisch Atheisten sind, als solche, die sich so nennen würden."

Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer europaweiten Erhebung aus dem Jahr 2005. Sie kam zu dem Ergebnis, dass für 25 Prozent der Deutschen "weder Geist, noch Gott oder eine höhere Macht" existiert. Dies seien deutliche höhere Zahlen als in anderen Ländern.

Auch Kirchenmitglieder glauben nicht an die Existenz Gottes

Auch unter den Kirchenmitgliedern scheinen viele reine Namenschristen zu sein. Zumindest kam die repräsentative soziologische Studie "Allbus" zu diesem Ergebnis. Dass drei von fünf Konfessionslosen der Aussage "Ich glaube nicht, dass es einen persönlichen Gott gibt", zustimmen, überrascht wenig. Aber auch jedes fünfte Kirchenmitglied stimmte dieser Aussage zu. Gottlose finden sich also überall resümiert Stefan Schmitt, und findet es erstaunlich, wie wenig diese zahlenmäßig große Gruppe an die Öffentlichkeit drängt: "Atheisten scheinen in ihrer Mehrheit kein Bedürfnis zu haben, sich als Atheisten zu organisieren."

Eine Erklärung dafür bietet sicher die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft, in der sich jeder seinen eigenen Glauben bastelt. "Zen meditierende Katholiken gehören genauso zu dieser sozialen Wirklichkeit wie von der Reinkarnation überzeugte Protestanten oder religiös Indifferente. Bei vielen Christen schrumpft das religiöse Wissen zusammen", schreibt Schmitt. Und Untersuchungen des Marburger Religionspsychologen Sebastian Murken ergaben, dass sich unter den Kirchenmitgliedern ein ebenso buntes Spektrum verschiedenster Glaubensvorstellungen findet wie außerhalb der Kirchen. (pro)

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