Nahezu jede Religion spreche vom Ursprung des Lebens als „Schöpfung“ und von einer Abhängigkeit der Welt von Gott oder den Göttern. Religionsfeindliche Autoren sowie Biologen betonen hingegen daher in zahlreichen Schriften vor allem die Bedeutung der Theorie von Charles Darwin, nach der das Leben durch Zufall entstand. Der Theologe Graf stellt dem entgegen: „Kein Mensch hat sich selbst das Leben gegeben. Wir alle leben von Voraussetzungen, die uns nicht zur Verfügung stehen.“
Gleichzeitig bringe der Schöpfungsglaube dem Menschen einen Vorteil: nämlich eine „intensive Selbstreflexion“. „Wer den Unterschied von Schöpfer und vornehmstem Geschöpf kennt, kann seine Endlichkeit konstruktiv annehmen und den Lebensmoment ernst nehmen, auskosten“, schreibt Graf, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München evangelische Theologie lehrt.
Jüdische wie christliche Theologen sprächen deswegen von „Schöpfungsordnungen, um den allgemeinsten Ordnungsrahmen zu benennen, der allem menschlichen Handeln als unverfügbar vorausliegt. Basisinstitutionen der Gesellschaft wie Ehe, Familie und Staat wurden zu Schöpfungsordnungen sakralisiert. So ist Schöpfung immer auch ein Grundbegriff politisch-sozialer Sprache“.
Deswegen gehe es den Anhängern Darwins und den Kreationisten keineswegs nur um die Frage, wer Entstehung und Entwicklung des Lebens richtig versteht. „Gekämpft wird um kulturelle Deutungsmacht. (…) Gestritten wird primär über die normativen Grundlagen des Gemeinwesens und verbindliche Ethik.“
Nicht nur in den USA wächst Schöpfungsglaube
Graf betont, dass der Kreationismus keinesfalls nur in den USA eine „mächtige religionskulturelle Bewegung“ sei. Auch in Europa steige die Zustimmungsrate, so Graf. „Im deutschen Sprachraum hält jeder Fünfte den biblischen Mythos für wahr, Universum, Erde und Leben des Menschen seien vor etwa 6000 Jahren von Gott selbst in sechs Tagen erschaffen worden.“ Graf führt aus: „Anders als in Europa arbeiten in den USA eine ganze Reihe bedeutender Wissenschaftler für kreationistische Organisationen. Auch sind hier in den letzten zwanzig Jahren mehrere große Forschungsinstitute gegründet worden, allen voran das ‚Institute for Creation Research and Answers in Genesis‘ in Seattle. In der liberalen amerikanischen Presse kann man lesen, dass jährlich etwa 400 Millionen Dollar in Creation Research fließen.“
Die römisch-katholische Kirche nutzte dabei allerdings die Kreationismus-Kontroverse gern zur „religionspolitischen Profilierung“. Sie lehre „Kreatianismus statt Kreationismus“, also die Ansicht, dass Gott jede menschliche Seele durch einen je eigenen unmittelbaren Schöpfungsakt ins Leben ruft. Der eigentliche Kreationismus werde in Rom hingegen als „biblizistischer Irrweg eines schriftfixierten protestantischen wie islamischen Fundamentalismus“ verworfen. „Denn“, so Graf, „große Zustimmung finden Argumente westlicher protestantischer Kreationisten inzwischen auch im islamischen und jüdisch-orthodoxen Diskurs.“
„Kreationismus“ umfasst viele unterschiedliche Standpunkte
Dabei weite sich das Spektrum der Positionen im kreationistischen Gegenwartsdiskurs „fortwährend aus“. „Kurzzeitkreationismus“, „Langzeitkreationismus“, „Evolutionistischer Kreationismus“ und „Neokreationismus“ mit „Intelligent Design“, „Abrupt Appearance“ und „Evidence against Evolution“ verlangten selbst Experten erhebliche gedankliche Differenzierungsfähigkeit ab.
Im Hinblick auf die hiesige Debatte stellt der Theologe fest: „Bei europäischen Intellektuellen lässt sich viel arrogante Abwehr des Kreationismus als eines Irrglaubens der unwissenschaftlich Bornierten beobachten. Geboten sind jedoch religionsanalytische Erklärungen seiner wachsenden Erfolge, auch bei Bildungsbürgern.“ Kreationismus sei zu verstehen als ein „religiöser Gegenentwurf zu einem Wissenschaftsglauben, der Professoren zu Propheten stilisiert und durch besseres Erkennen Lebenssinn gewinnen will“. (PRO)