Ethnologe: „Religion ist keine Ursache für Kriege“

M ü n c h e n (PRO) - Muslime kämpfen gegen Christen, Schiiten gegen Sunniten, bei vielen Konflikten und Kriegen auf der Welt scheint Religion ein Hauptgrund zu sein. Dem ist nicht so, die eigentlichen Ursachen liegen woanders, sagt der Direktor des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle an der Saale, Günther Schlee.
Von PRO

Viele Konflikte wie etwa im Irak, Darfur, Ex-Jugoslawien oder Ruanda hätten zwar eine ethnische oder religiöse Ausdrucksform, die Auslöser seien aber oft anderer Natur, sagte Schlee in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Sie müssen sich die zeitliche Abfolge ansehen. Eine Ursache steht am Anfang der Entwicklung und löst die folgenden Ereignisse aus. Bei Konflikten, die als ethnisch oder religiös bezeichnet werden, ist es aber oft so, dass sich erst im Verlauf ein entsprechendes Bewusstsein oder eine Verhärtung dieser Identitäten herausbildet.“ Die eigentlichen Konfliktursachen seien andere. „Das kann der Zugang zu materiellen Ressourcen sein, etwa Öl, Wasser, Weideland, Diamanten. Es können auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt sein.“

Im früheren Jugoslawien etwa hätten sich die einzelnen Parteien ausschließlich auf ihre Besonderheiten als Serben, Kroaten oder Bosnier berufen können. „Aber dann hätte sich ihr Appell jeweils nur an eine kleine Gruppe gerichtet. Die Serben haben deshalb auf die panslawische Identität gesetzt – zu der dann auch die Russen gehörten. Weil die Karte der sprachlichen Verwandtschaft von den Serben ausgespielt wurde, hatten die bosnischen Muslime keine andere Option mehr als die religiöse: Sie haben deshalb auf die weltweite Gemeinschaft der islamischen Gläubigen gesetzt. Dabei sind viele bosnische Muslime gar nicht religiös. Schon deshalb scheidet Religion als Begründung des Konflikts aus.“

Radikale Moslems in Rivalität zum Westen

Die ausländischen Kämpfer, stark religiöse Muslime, folgten vermutlich eher einer globalen Agenda, die sich auf die Rivalität mit dem Westen bezieht, so der Wissenschaftler. „Neben anderen Brandpunkten wie dem Nahen Osten oder Afghanistan war Bosnien für sie nur ein weiteres Schlachtfeld in einem größeren Krieg. Ein malaysischer Muslim zum Beispiel könnte motiviert sein durch die wirtschaftlichen Rivalitäten zwischen seiner Heimat als Schwellenland und den westlichen Industrienationen. In dem Sinne könnte er den Bosnier als muslimischen Bruder anerkennen, während der einfach um sein Heim kämpft.“

Auch in Darfur klinken sich nach Meinung Schlees die lokalen Konfliktparteien in globale Diskurse ein. „Die Reitermilizen stellen sich als die islamisch-arabische Seite dar und hoffen auf Unterstützung aus Libyen oder Khartum, die ‚Schwarzafrikaner‘ setzen darauf, dass ihre Unterdrückung im Westen mit der Sklaverei und den Bürgerrechten sowie dem Schutz autochthoner Bevölkerungen assoziiert wird. Man übersetzt den lokalen Konflikt in eine Sprache, die weltweit verstanden wird.“

Dass heutzutage die Bedeutung von Religion in Konflikten scheinbar zugenommen habe, habe hauptsächlich mit einer „Purifizierung“ zu tun. Dabei grenzten sich Vertreter einer „reinen Lehre“ gegenüber weniger streng Gläubigen ab. „Das beobachtet man in einigen islamischen Ländern. Und auch in manchen Teilen des Westens kann man in der Politik vor allem in den letzten 15 Jahren eine zunehmende Orientierung in Richtung christliche Religion beobachten – in Reaktion auf eine wirkliche oder vermeintliche Bedrohung durch den Islam“, so Schlee.

Hinter einem scheinbaren religiösen Konfliktpotential stecke, „dass sowohl unter den Muslimen als auch den Christen in vielen Ländern die Eliten an einen Punkt gekommen sind, an dem sie begründen müssen, warum nicht alle den gleichen Zugang zu den Ressourcen und das Recht auf Mitsprache haben sollen.“ Es gehe also nicht eigentlich um Religion, sondern um Macht. „In islamischen Ländern haben die Gruppen, die den Glauben dort verbreitet haben, die Eliten gebildet. (…) Man erklärt sich zum richtigen Muslim, und die anderen zu falschen.“

Kulturelle Unterschiede bergen wenig Konfliktpotential

Falsch sei die weit verbreitete Ansicht, dass im „Kampf der Kulturen“ das Konfliktpotential umso größer sei, je größer die Unterschiede zwischen den jeweiligen Parteien sind. „Die kulturelle Verschiedenheit korreliert nicht mit der Konflikthäufigkeit. Auf der anderen Seite finden wir häufig Konflikte gerade zwischen kulturell besonders ähnlichen Gruppen. Als grobe Faustregel kann man sagen: Zwischen Menschen mit völlig unterschiedlichen Kulturen ist die Konfliktwahrscheinlichkeit geringer.“

Das treffe in gewisser Weise auch in Israel zu: „Die Gemeinsamkeiten (zwischen Palästinensern und Israelis) sind jedenfalls größer als zwischen den beiden Parteien und anderen Gruppen. Ein anderes Beispiel ist Nordirland, wo Katholiken und Protestanten streiten. Beide Parteien sind sich so ähnlich, wie es unterscheidbare Gruppen überhaupt sein können.“

Das ganze Interview lesen Sie hier.

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